Musik      Ein verstecktes Volkslied bei Mahler, Liszt und Brahms

In der Musik von Mahler, Liszt und Brahms gibt es drei Stellen, die beim aufmerksamen Hören verdächtig ähnlich klingen. Das wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn es sich nicht um besonders intensive und schöne Stellen handeln würde, die zudem von ihren Komponisten mit besonderer Bedeutung aufgeladen wurden. Sie alle handeln von Erinnerung und Wehmut, von der Sehnsucht nach etwas Verlorenem. Die Ähnlichkeit dieser drei Stellen hat einen einfachen Grund: Sie zitieren dasselbe Volkslied.

Bei Gustav Mahler geschieht das in seiner 3. Sinfonie. In ihrem Scherzo gibt es eine ganz eigenartige Passage, die sogenannte »Posthorn-Episode« (sie bildet das Trio des Scherzos). Wie von Zauberhand bricht in die Kunstwelt der großen Sinfonie hier unvermittelt ein Klang ein, den Mahlers Zeitgenossen aus ihrem Alltag kannten: das Horn eines Postkutschers. Der Zauber wird von Mahler höchst kunstvoll inszeniert, indem er ein Alltagsinstrument in sein Orchester holt. Mahler komponiert hier eine akkustische Märchenszene, eine musikalische virtual reality, die so perfekt gelingt, weil er das Instrument nicht wirklich in das Orchester holt. Der Hornist steht vielmehr fern ab, außerhalb des Konzertsaals. Seine Musik, fürwahr, »kommt von draußen rein«. Ein Hornsignal, wie von einer in der Ferne vorbeifahrenden Postkutsche. (Bei Aufführungen wird das Posthorn mitunter durch ein Flügelhorn ersetzt, den modernen Nachfahren des Signalhorns, gewissermaßen als Camouflage des Posthorns). Doch für den Effekt, den Mahler anstrebt, wäre das Signal allein zu wenig: Wo es eigentlich zuende wäre, holt der Hornist noch einmal Luft und spielt wie in Gedanken verloren weiter. Das musikalische Material des Signals formt sich jetzt zu einer getragenen Melodie (»portamento«), der Melodie des zitierten Volkslieds. Das Signal beginnt zu singen. Das akustische Alltagszeichen wird zu Musik. Die Wirkung ist immens, auf Hörer wie Musiker. Es ist, als bliebe die Zeit stehen. Das Orchester hält inne in seiner komplexen Klangproduktion und scheint aufzuhorchen, wie gebannt von diesem fernen, fremden und doch (damals) so vertrauten Klang, der einsamen Melodie eines Posthorns. Eine ganz schlichte, ja naive Melodie, eben ein Volkslied, aber wunderschön, ja eigentlich zu schön um wahr zu sein. Ein schöner Traum. Die berührende Stelle wirkt wie ein Einbruch des Unwirklichen in das Konzerterlebnis. Und dabei ist es doch das genaue Gegenteil: Tatsächlich bricht hier, von Mahler erfindungsreich inszeniert, die Wirklichkeit ein in das Unwirkliche, nämlich ein ganz alltägliches Instrument mit einer ganz alltäglichen Melodie in den höchst artifiziellen Kosmos einer großen, kunstvollen Sinfonie.

Mahler: 3. Sinfonie (3. Satz, Posthorn-Episode, Ziffer 14)

Dieselbe Melodie zitiert auch Franz Liszt in einer seiner virtuosen Klavierkompositionen, seiner Rhapsodie espagnole. Auch hier ist die Wirkung des Volkslieds eine Beruhigung in der komplexen Klangproduktion. Der Pianist hält in seinen virtuosen Aktionen inne. Stellen wir uns den Klaviervirtuosen Liszt bei der Komposition vor (er ist Anfang der Fünfzig). Es wirkt, als schaue er beim Improvisieren plötzlich nach innen, als tauche da etwas lange Vergessenes auf, eine alte Melodie seiner Kindheit. Er greift sie auf, hört ihr eine Weile nach, um sie dann mit in sein virtuoses Spiel hinüberzunehmen. Doch diese einfache Melodie scheint sich dem kompositorischen Zugriff zu widersetzen. Die Triller, die er über sie legt, perlen an ihr ab. Die Rückkehr zur virtuosen Attacke gelingt erst im zweiten und dritten Anlauf. Und nur ohne sie. Der Versuch des Komponisten, diese Melodie bei sich zu halten, indem er sie durch thematische Verarbeitung, durch Variation und Ornamentierung in seine eigene Musik integriert, scheitert. Sie bleibt wie sie ist. Die alte Melodie ist aufgetaucht, eine kurze Weile geblieben und wieder verschwunden: Die Sehnsuchtsvision des Vergangenen hat in der Gegenwart keinen bleibenden Ort. Eine alte Melodie aus der Kindheit – das könnte auch erklären, warum wir in einer »spanischen« Rhapsodie hier plötzlich ein österreichisch-böhmisches Volkslied hören.

Liszt: Rhapsodie espagnole (kurz nach Un poco meno Allegro)

Auch Johannes Brahms zitiert die Melodie, und zwar in einem für ihn selbst besonders wichtigen Werk. Nach dem Tod seiner Mutter komponierte Brahms, um seine Trauer zu verarbeiten, sein »Deutsches Requiem«. Trauerarbeit aber leistete er auch – weniger offensichtlich, doch ebenso intensiv – in einem weiteren Werk, seinem Horntrio Es-Dur op. 40. Das Horn war für Brahms ein Instrument seiner Kindheit. Es war neben dem Kontrabass das Instrument, mit dem sein Vater das Geld für die Familie verdiente, indem er in Hamburger Tanzlokalen aufspielte. Und er selbst spielte es auch: »Das Naturhorn war neben Violoncell und Klavier das Hauptinstrument des Knaben Johannes«, schreibt sein enger Freund und Biograf Max Kalbeck. Wie Mahler zitiert auch Brahms die Volksliedmelodie im Scherzo seines Werks, und dort ebenfalls wie Mahler im Trio. Bei ihm allerdings geschieht das sehr unauffällig. Melodie und Rhythmus werden geglättet, das Volkslied wird gewissermaßen brahmsisch veredelt, das Zitat macht sich im Brahms-Sound fast unsichtbar. Und es steht nun in Moll. Die Spur seiner Herkunft wird verschleiert, bei Brahms ein sicheres Zeichen dafür, dass es ihm wichtig war. Und diese Melodie war ihm wichtig. Die Passage mit dem Volksliedzitat entstammt einem Klavierstück («Albumblatt« s.u.), das er bereits als Zwanzigjähriger komponiert hatte. Nun, zwölf Jahre später, übernimmt er es in die Trauermusik für die Mutter, in das Zentrum des Scherzos, des einzig trostvollen Satzes in seinem Horntrio. Seine Freunde kannten Brahms als einen, der seine Gefühle nicht gern zeigte. Er musste wohl die Spuren dieser Melodie verwischen, weil sie ihm zuviel bedeutete. Es musste nicht jeder hören, wovon Brahms hier wirklich sang, nämlich wie es der Text des Original-Liedes verrät: von der Mutter, die »nimmer heimkommt«.

Brahms: Horntrio (Scherzo, Takt 287ff, Molto meno Allegro)

Das frühe Albumblatt in a-moll aus dem Jahr 1853 ist übrigens 2012 von dem britischen Dirigenten, Cembalisten und Musikwissenschaftler Christopher Hogwood in der Bibliothek von Princeton gefunden worden, in einem Buch, das zu Brahms' Zeiten dem Musikdirektor der Göttinger Universität gehört hat. Brahms mag es ihm geschenkt haben – »zur Erinnerung«, wie er auf dem Blatt notierte.

Brahms: Albumblatt 1853 (Allegro con espressione)

Ob bei Brahms, Liszt oder Mahler – stets geht der Auftritt des Volksliedzitats mit einer Beruhigung des Tempos einher. Was nicht verwundert, weil Ruhe und Beruhigung eben den Hauptcharakter des zitierten Liedes ausmachen. Bemerkenswert ist allerdings, dass Brahms und Liszt für diese Tempoberuhigung fast dieselbe Formulierung verwenden: »meno allegro«; der eine »un poco«, der andere »molto«. Es gäbe dafür manche anderen Bezeichnungen, doch sie wählen die gleiche. Und bemerkenswert ist auch, dass bei Brahms wie bei Mahler das gleiche Instrument den musikalischen Kontext prägt: ein Horn.

Das alles sind jedoch Nebensächlichkeiten gegenüber der einen wirklich wesentlichen Gemeinsamkeit, die vermittelt wird durch das gemeinsam zitierte Volkslied, das die drei so verschiedenen Komponisten an besonders ausdrucksstarken Stellen ihrer Musik in der Tiefe miteinander verbindet: Alle drei erzählen sie von Erinnerung und Wehmut, von der Sehnsucht nach etwas Verlorenem oder vielleicht nie Besessenem, und sie gewinnen Trost aus der Schönheit derselben einfachen Melodie aus ihrer Kindheit. In Abwandlung eines bekannten Satzes von Ernst Bloch: »So entsteht in der [Musik] etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« (Das Prinzip Hoffnung, S.1628) Das Liedzitat erzielt seine berührende Wirkung, weil es zwei der großen menschlichen Sehnsuchtskomplexe beschwört: Kindheit und Heimat. Wir könnten auch sagen: Paradies.

Das Volkslied

Um welches Lied geht es nun eigentlich? Welche Melodie war den drei Komponisten so wichtig, dass sie sie in die eigene Musik aufnahmen?

Es handelt sich um ein Volkslied vom Beginn des 19. Jahrhunderts, auch heute noch sehr bekannt, entstanden vermutlich irgendwo im Gebiet Österreich/Südböhmen, das in der dortigen Mundart zu einer so innigen Melodie gesungen wurde, dass viele es heute für ein Wiegenlied halten. Das ist es jedoch keineswegs, wie ein Blick auf den Text zeigt. Und noch weniger ist es ein Weihnachtslied, für das es ebenfalls oft gehalten wird. Es ist eigenartig, dass die meisten Hörer, gebannt von der innig wärmenden Melodie, über den finsteren, kalten Inhalt des Textes hinweghören. In Wahrheit singt dieses Lied von der tödlichen Bedrohung des Kindes durch den Verlust der Mutter.

Sein Titel lautet wie sein Refrain: »Heidschi bumbeidschi«. Für manche, die es kennen, heute ein absolutes No-Go, was jedoch auf einer Fehleinschätzung beruht. Einer Fehleinschätzung hinsichtlich der Qualität des Liedes, die nämlich ganz beachtlich ist, wie Mahler, Liszt und Brahms nun wirklich gezeigt haben. Das Missverständnis ist allerdings verzeihlich. Es ist die Folge der zahlreichen, ganz unangemessenen Interpretationen, in denen es meist zu hören ist, jenen zuckersüß-besinnlichen Verunstaltungen durch populäre Vokalisten mit, sagen wir einmal, nur im Kitsch unbegrenztem Horizont. Ganz im Gegensatz zu deren Auffassung ist es jedoch in Wahrheit ein trauriges Lied, wie der Originaltext der ersten Strophe zeigt, ein todtrauriges. Es ist durchaus kein Schlaf- oder Wiegenlied, auch wenn hier ein kleines Kind zum Schlafen aufgefordert wird. Es soll lange schlafen, denn seine Mutter kommt ja nie mehr heim. Wäre es ein Schlaflied, dann eines zum letzten, großen Schlaf. Wer es fertig bringt, dies am Bett eines Kindes oder zu Weihnachten zu singen, bedarf wohl einer Therapie. Das Lied wird einem Kind gesungen, dem die Mutter in den Tod vorangegangen ist. Gerade aus der Spannung zwischen einem Text, der von einer kaum zu ertragenden Hoffnungslosigkeit ist, und einer Melodie, die gegen alle Vernunft dennoch zu trösten versucht, erwächst die immense emotionale Kraft dieses Liedes, von der auch Mahler, Liszt und Brahms so stark bewegt worden sind.

Heidschi bumbeidschi (Volkslied, frühes 19. Jh.)