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Das Fußball-Polyeder

Das »meistgeliebte geometrische Objekt« dürfte wohl der Ikosaeder-Stumpf sein. Denn über viele Jahre war er das mathematische Modell des Fußballs (so bei den Weltmeisterschaften von 1978 bis 1998). Das hat seinen guten Grund: Der Ikosaeder-Stumpf ist unter allen Polyedern der beste Kompromiss, wenn man aus flachen (Leder-)Stücken einen Körper zusammennähen möchte, der nach dem Aufpumpen möglichst nah an das Ideal einer Kugel herankommt. Ein solcher Kompromiss muss mehrere erwünschte Eigenschaften unter einen Hut bringen, die einander teilweise widersprechen: Seine Ecken und Kanten sollten möglichst stumpf und seine Flächen nicht allzu unterschiedlich sein, um ein gutes Rollverhalten zu erreichen. Und er sollte nicht zu viele Kanten haben, damit das Zusammennähen nicht zu aufwendig wird.

Wenn man Fußbälle aus flachen (ebenen) Stücken zusammensetzt, dann entstehen automatisch Körper, die wir in der Mathematik »Polyeder« (Vielflächner) nennen: Körper, die nur von ebenen Flächen begrenzt sind. Beim Aufpumpen wölben sich die ursprünglich ebenen Stücke, und Kanten und Ecken werden flach, das Polyeder wird zum Ball. Als man vor der Weltmeisterschaft 2002 dazu überging, Fußbälle aus gewölbten Stücken zusammenzusetzen, wie man es schon lange mit Tennisbällen machte, war das Polyedermodell obsolet. (Leider, wie wir aus Sicht der Mathematikdidaktik feststellen müssen, der dadurch ein motivierender Aufhänger für die Beschäftigung mit komplexeren Polyedern abhanden gekommen ist.)

Der Name »Ikosaeder-Stumpf« ist bereits seine Bauanleitung: Wir können ihn herstellen, indem wir das Ikosaeder an allen 12 Ecken so abstumpfen, dass jeweils ein regelmäßiges Fünfeck entsteht. Die Abbildung zeigt, wie wir vorgehen.

Ein Fünfeck entsteht beim Abschneiden der Ecken automatisch, denn in jeder Ecke des Ikosaeders stoßen fünf Flächen zusammen. Wenn dieses Fünfeck regelmäßig werden soll, also möglichst symmetrisch, dann müssen wir möglichst symmetrisch schneiden. Und das heißt: genau senkrecht zum Radius (der Verbindungsstrecke vom Mittelpunkt des Ikosaeders zur jeweiligen Ecke). Je nachdem, wie viel wir abschneiden, wird die Seitenlänge des Fünfecks größer oder kleiner. Ein Ikosaeder-Stumpf hat lauter gleichlange Kanten. Wir müssen also alle Ecken auf dieselbe Größe abschneiden, und zwar exakt so, dass die Kanten, die vom alten Ikosaeder noch übrig bleiben, genauso lang werden wie die neuen Fünfeckseiten. Dann bleibt nach dem Abstumpfen aller Ecken von jeder der gleichseitigen Dreiecksflächen des ursprünglichen Ikosaeders ein regelmäßiges Sechseck übrig.

Der Ikosaeder-Stumpf hat 32 Flächen (12 regelmäßige Fünf- und 20 regelmäßige Sechsecke), 60 Ecken und 90 Kanten. Nach der Eulerschen Polyederformel gilt für alle konvexen (nur nach außen gewölbten) Polyeder die Bilanzgleichung Eckenzahl - Kantenzahl + Flächenzahl = 2. In diesem Fall: 60 - 90 +32 = 2.

Die archimedischen Körper

Der Ikosaeder-Stumpf ist einer der 13 archimedischen Körper (»halbreguläre« Polyeder). Wie bei den platonischen Körpern (»reguläre« Polyeder) sind auch bei den archimedischen alle Flächen regelmäßige Vielecke. Anders als bei den platonischen Körpern sind diese aber nicht alle zueinander kongruent: Während ein platonischer Körper aus jeweils nur einer Sorte kongruenter regelmäßiger Vielecke besteht, sind es bei einem archimedischen Körper stets zwei bzw. drei Sorten (vgl. die nächste Abbildung). Daher sind die archimedischen Körper nicht ganz so regelmäßig gebaut wie die platonischen, warum man sie auch nur als »halbregulär« bezeichnet. Der Ikosaeder-Stumpf besteht z.B. aus zwei Sorten: aus Fünf- und Sechsecken. Da aber auch die Vielecke verschiedener Sorten mit ihren Seiten genau aneinander passen müssen, sind auch bei archimedischen Körpern alle Kanten stets gleich lang. Denn wenn alle Flächen regelmäßige Vielecke sind, dann überträgt sich die Kantenlänge automatisch auf alle Nachbarn einer Fläche, und weiter auf deren Nachbarn usw. – und daher auf alle Flächen.

Die folgende Abbildung zeigt alle 13 archimedischen Körper:

Die Regelmäßigkeit (Regularität) der platonischen bzw. archimedischen Polyeder beruht aber nicht nur auf den zwei Eigenschaften »einheitliche Kantenlänge« und »regelmäßige Vielecke als Flächen«. Es gibt noch eine dritte: In jedem dieser Polyeder sind alle Ecken gleich. Anschaulich ist damit gemeint: Man kann zwei beliebige Ecken eines Körpers so abschneiden und vertauscht wieder ankleben, dass man anschließend davon nichts mehr bemerken kann, weil der Körper nach dem Vertauschen exakt dieselbe Form hat wie vorher. Dies bezeichnet man als lokale Kongruenz (oder Uniformität) aller Ecken. In Polyedern aus regelmäßigen Vielecken sind Ecken genau dann lokal kongruent, wenn sie von »denselben Vielecken« umgeben sind. Genauer: wenn die zyklischen Folgen der Eckenzahlen der sie umgebenden regelmäßigen Vielecke gleich ist. Denn mit dieser Folge sind alle Winkel zwischen den Kanten, die in der jeweiligen Ecke zusammenstoßen, genau festgelegt. Stimmen zwei Ecken in dieser Folge überein, dann sind sie also lokal kongruent. Beim Ikosaeder-Stumpf zum Beispiel stoßen in jeder Ecke ein Sechseck, ein Sechseck, ein Fünfeck zusammen. Jede seiner Ecken hat, wie man sagt, den Eckentyp (6,6,5). Da es bei einer zyklische Folge nicht darauf ankommt, wo sie beginnt, kann man diesen Eckentyp ebensogut als (6,5,6) oder (5,6,6) bezeichnen. Beim abgeschrägten Würfel (Cubus simus) ist der Eckentyp überall (3,3,3,3,4).

Das Problem mit der loalen Kongruenz der Ecken ist allerdings, dass sie noch nicht ganz ausreicht, wenn man die archimedischen Körper genau definieren will. Dazu unten mehr.

Der große Johannes Kepler (1571-1630) – der ja nicht nur ein bedeutender Astronom war, sondern auch ein mindestens ebenso bedeutender Mathematiker – war der erste, der alle archimedischen Körper gefunden hat. Die Mathematiker der griechischen Antike kannten nur einige von ihnen. Und Kepler hat auch eine enge konstruktive Beziehung zwischen platonischen und archimedischen Körpern entdeckt: Dass man nämlich jeden archimedischen Körper durch Abstumpfen aus einem platonischen Körper herstellen kann. Dieses Abstumpfen erfolgt wie beim Fußball-Polyeder durch Abschneiden aller Ecken (und manchmal auch von Kanten) des platonischen Körpers. Und zwar so, dass die Schnittfiguren regelmäßige Vielecke sind, deren Seiten genau so lang sind wie die Reste der alten Kanten des platonischen Körpers. Alle Kanten eines archimedischen Körpers sind daher stets gleich lang. Weil es für dieses Abschneiden meist mehrere Möglichkeiten gibt, entstehen aus den 5 platonischen Körpern nicht nur 5 archimedische, sondern 13.

Ein 14. archimedischer Körper?

Wie gesagt reicht die Forderung nach lokaler Kongruenz aller Ecken noch nicht aus, um unter den konvexen Polyedern mit mindestens zwei Sorten kongruenter regelmäßiger Vielecke genau die 13 archimedischen herauszufiltern. Über Jahrhunderte scheint dies jedoch niemandem aufgefallen zu sein. Bis dann endlich im Jahr 1930 der damals vierundzwanzigjährige britische Mathematiker Jeffrey C. P. Miller (1906-1981) ein Polyeder präsentierte, das er aus einem der archimedischen Körper durch eine leichte Veränderung erhielt. Eine so naheliegende Veränderung, dass es schon sehr verwunderlich wäre, wenn wirklich niemand zuvor darauf gekommen sein sollte. Da es aus dem Rhombenkuboktaeder entsteht (das schon bei Kepler so heißt), nennt man es das Pseudo-Rhombenkuboktaeder. Um es zu bauen, müssen wir bei jenem einfach eine der äußeren Schichten um eine Kantenlänge verdrehen, also um 45°. Die Abbildung zeigt dies für die obere Schicht:

Handelt es sich bei Miller's Solid (Millers Körper), wie man dieses Polyeder zu Ehren seines Erfinders in der englichsprachigen Welt auch nennt, um einen bisher übersehenen, also den 14. archimedischen Körper? – Nun, man kann das so sehen, und das hätte den Vorteil, nichts an der alten Definition der archimedischen Körper ändern zu müssen. Es gibt aber gute (bessere) Gründe dafür, das anders zu sehen: Denn das Pseudo-Rhombenkuboktaeder ist nicht so regelmäßig wie die 13 traditionellen archimedischen Körper. Obwohl auch seine Ecken alle lokal kongruent sind, haben sie nämlich nicht alle dieselben Eigenschaften. Man kann beim Pseudo-Rhombenkuboktaeder zwei verschiedene Sorten von Ecken unterscheiden. Bei den traditionellen archimedischen Körpern kann man das nicht, bei ihnen sind alle Ecken völlig ununterscheidbar. Und das war stets eine der für ganz zentral gehaltenen Eigenschaften der platonischen wie der archimedischen Körper. Diese sollten ja die regelmäßigsten unter allen Polydern sein. Es spricht wenig dafür, an dieser Idee etwas zu ändern.

Man hatte allerdings bis 1930 übersehen, dass die lokale Kongruenz keineswegs ausreicht, damit Ecken wirklich ununterscheidbar sind. Nämlich dann, wenn man berücksichtigt, wie von ihnen aus der ganze Körper aussieht. Millers Körper zeigt, dass Ecken auch global kongruent sein müssen, wenn sie wirklich ununterscheidbar sein sollen. Damit ist anschaulich gemeint: Von jeder Ecke aus muss der gesamte Körper stets völlig gleich aussehen. Oder anders gesagt: Alles, was man über eine Ecke sagen kann, muss man auch über jede andere Ecke sagen können. Formal bedeutet das: Jede Ecke muss durch eine starre Deckabbildung des Körpers in jede andere überführt werden können. Und das ist beim Pseudo-Rhombenkuboktaeder eben nicht der Fall. Bei ihm sind die Ecken zwar alle lokal, aber nicht alle global kongruent.

Wieso nicht? Das hat mit einem Unterschied gegenüber dem Rhombenkuboktaeder zu tun, durch den seine Pseudo-Version eine entscheidende Regelmäßigkeit verliert: Im Rhombenkuboktaeder gibt es drei Gürtel, die jeweils aus acht aneinander hängenden Quadraten bestehen (sehen Sie diese Gürtel in der Abb. oben?). Im Pseudo-Rhombenkuboktaeder gibt es dagegen nur einen solchen Gürtel (in der Abb. waagerecht), und das wirkt sich auf die Unterscheidbarkeit der Ecken aus. Im Rhombenkuboktaeder gibt es nur eine Eckensorte: alle liegen jeweils an zwei Gürteln. Im Pseudo-Rhombenkuboktaeder gibt es dagegen zwei Eckensorten: einmal solche, die an dem einen Quadrat-Gürtel liegen (z.B. A) und zum anderen solche, die nicht daran liegen (z.B. B). Eine Abbildung, die eine Ecke, die am Gürtel liegt, auf eine Ecke abbildet, die nicht daran liegt, kann aber keine Deckabbildung sein. Folglich sind die Ecken im Pseudo-Rhombenkuboktaeder zwar alle lokal kongruent; global kongruent sind aber nur jeweils die Ecken derselben Sorte. Im Rhombenkuboktaeder dagegen sind alle Ecken lokal und global kongruent.

Resumee: Das Pseudo-Rhombenkuboktaeder sollte nicht zu den archimedischen Körpern gezählt werden, weil bei ihm nicht alle Ecken ununterscheidbar sind und es folglich nicht so regelmäßig ist wie diese. Dann müssen wir aber die alte Definition verschärfen: Zur Definition der archimedischen Körper müssen wir nicht die lokale Kongruenz aller Ecken fordern (womit Millers Körper dazugehören würde), sondern deren globale Kongruenz (dann gehört er nicht dazu). Die globale Kongruenz ist eine erheblich stärkere Forderung, in ihr ist die lokale mit enthalten. – So bleibt es also (vernünftigerweise) bei den 13 traditionellen archimedischen Körpern.

Dass erst nach Jahrhunderten ein Mathematikstudent auf dieses Problem aufmerksam gemacht hat, ist wahrlich kein Rumesblatt für die »Königin der Wissenschaften«. – Millers Körper ist zwar kein archimedischer Körper, aber immerhin ein »Johnson-Körper«, wie man die konvexen Polyeder aus lauter regelmäßigen Vielecken nennt, die weder platonische oder archimedische Körper noch regelmäßige Prismen oder Antiprismen sind. Von diesen auch für die Schulmathematik höchst interessanten Körpern gibt es 92 Stück, und Millers Körper, das Pseudo-Rhombenkuboktaeder, hat in diesem Verzeichnis die Nummer 37 sowie den einigermaßen unhandlichen alternativen Namen »Verlängerte quadratische Drehdoppelkuppel« (engl.: Elongated square gyrobicupola).

Die folgende Abbildung zeigt das Pseudo-Rhombenkuboktaeder in Rotation. Sie sehen den Quadrat-Gürtel von oben nach unten laufen, und es ist leicht zu erkennen, dass es keinen weiteren solchen Gürtel gibt.



Es gibt 13+2 archimedische Körper

Damit die Sache zum guten Schluss wieder etwas komplizierter wird – und die Kompliziertheit lieben wir Mathematiker/innen ja nun mal, weil wir es lieben, sie zu dekomplizieren –, soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass es genaugenommen doch nicht nur 13 archimedische Körper gibt. Es sind eigentlich 15, oder sagen wir 13+2. Denn zwei von ihnen, der abgeschrägte Würfel und das abgeschrägte Dodekaeder, existieren jeweils in zwei »Spiegelvarianten«. Wenn Sie wissen wollen, was das genau heißt und wie diese aussehen, dann finden Sie Näheres dazu in meinem Buch Körpergeometrie (auf Seite 44). Sie können es unter Downloads herunterladen.