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Flächenzauber

Der Beweis ist eigentlich völlig korrekt. Bis auf ein kleines, aber entscheidendes Detail: Die beiden »Dreiecke« sind keine. Wären sie wirklich Dreiecke, so wäre der Beweis wirklich ein Beweis. Denn zwei gleichschenklige Dreiecke, die in Basis und Höhe übereinstimmen, sind natürlich kongruent. Und die Kongruenz brauchen wir, wenn wir behaupten wollen, dass hier wirklich eine Lücke »herbeigezaubert« wird. Die »Dreiecke« sind jedoch in Wahrheit Fünfecke.

Dreiecke wären es nur dann, wenn die Steigungen der Hypotenusen in den beiden rechtwinkligen Teil-Dreiecken (mit den Katheten 5 und 2 bzw. 7 und 3) identisch wären. Das sind sie aber nicht. Im kleineren ist der Betrag der Steigung nämlich 2 1/2, im größeren dagegen nur 2 1/3. Rechnen Sie nach. Die Schenkel im linken »Dreieck« sind also ein wenig nach innen, die im rechten ein wenig nach außen geknickt, so dass jeweils zwei neue Ecken entstehen (in der Abbildung oben durch die roten Pfeile markiert). Aus dem »Dreieck« wird also jeweils ein Fünfeck. Für Fünfecke folgt aus der Übereinstimmung in Höhe, einer Seite und der Gesamtlänge zweier anderer Seiten, die wir in unserem »Beweis« anführen, jedoch keineswegs die Kongruenz. Da unsere Voraussetzung falsch ist, es handele sich bei den beiden Gesamtfiguren um Dreiecke, ist der gesamte Beweis falsch.

Das rechte Fünfeck ist links und rechts um zwei sehr schmale kongruente Parallelogramme größer als das linke, jedes davon hat den Flächeninhalt 1 (siehe Abb. unten). Es ist also durchaus keine Zauberei, wenn die sechs Puzzleteile rechts eine Lücke von 2 Flächeneinheiten lassen, denn die entspricht genau der Flächensumme der beiden Parallelogramme.

In der Abbildung unten sind beide Fünfecke übereinander gelegt, so dass wir die beiden Parallelogramme gut erkennen können. Im Vordergrund das kleinere linke Fünfeck, im Hintergrund das größere rechte, von dem hier zur besseren Übersicht nur die oberen Außenecken der beiden Winkelstücke dargestellt sind. Der feine Form-Unterschied der beiden Fünfecke fällt auch bei gutem Augenmaß kaum auf.

Die Grenzen handelnden Beweisens mit Figuren

Das Beispiel zeigt die Grenzen des »handelnden Beweisens« mit Figuren auf: Wenn wir die sechs Puzzleteile ausschneiden und die beiden »Dreiecke« daraus zusammensetzen, dann werden wir den Fehler, die Knicke in den beiden Schenkeln, allein auf unsere Augen gestützt nicht erkennen können. Nicht aufgrund einer optischen Täuschung, sondern schlicht deshalb, weil unser Augenmaß eben nicht fein und präzise genug für so kleine Abweichungen ist. Eher könnten wir dem Fehler handelnd auf die Spur kommen: Wenn wir ein Lineal anlegen, fällt uns der Knick vielleicht auf.

Erkenntnis-Sicherheit gewinnen wir aber nicht durch Sehen oder Handeln allein, es muss stets ein Prozess der argumentativen Reflexion hinzukommen. Dieser Prozess wird durch Auge und Hand gleichsam automatisch angeworfen und gelenkt: Unser »handelndes Sehen« ist ein latenter und zunächst weitgehend unbewusster Denkprozess, der aber – insbesondere bei auftretenden Irritationen, wenn wir also etwas wahrnehmen, das von unserer Normerwartung abweicht – in den bewussten Modus umschaltet und so für uns zu einer steuerbaren Aktivität wird. Das ist es, was wir mit dem Satz meinen: Durch Hand und Auge kommt die Mathematik in den Kopf.

Mathematische Erkenntnis ist nicht ohne argumentative Reflexion zu haben. Das Beispiel liefert wie die optischen Täuschungen einen weiteren didaktischen Baustein für unsere Motivation zum Beweisen in der Mathematik.